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Die Große Beschwerdekammer hat heute ihre Entscheidung in der wegweisenden Rechtssache G1/24 veröffentlicht
Juni 2025
G1/24, der als einer der wichtigsten Fälle seit Jahrzehnten bezeichnet wird, betrifft die Frage, wie Patentansprüche von den Beschwerdekammern und damit von allen Organen des Europäischen Patentamts auszulegen sind.
Die Vorlage an die Große Beschwerdekammer erfolgte aufgrund einer Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer 3.2.01, in der unterschiedliche Rechtsprechungsstränge zur Auslegung von Patentansprüchen festgestellt wurden. Ein erster Strang geht davon aus, dass die Ansprüche isoliert auszulegen sind und die Beschreibung nur herangezogen werden sollte, um eine Mehrdeutigkeit innerhalb eines Anspruchs zu klären. Der zweite Rechtsprechungsstrang geht davon aus, dass die Ansprüche stets im Lichte der Beschreibung auszulegen sind.
Eine schwierige Frage für die Beschwerdekammern war in beiden Fallgruppen, welche Rechtsgrundlage im Europäischen Patentübereinkommen für die Auslegung von Ansprüchen besteht. Einerseits wurde auf A.84[1] verwiesen, andererseits auf A.69[2] und das Protokoll über seine Auslegung[3] herangezogen.
Die Große Beschwerdekammer hat diese Frage nun entschieden und festgestellt, dass weder A.84 noch A69 eine eindeutige Rechtsgrundlage für die Auslegung von Ansprüchen beim EPA bieten, dass jedoch stets auf die Beschreibung und die Zeichnungen Bezug genommen werden muss. Damit wird die Praxis des EPA an die des Berufungsgerichts des UPC in der Rechtssache NanoString Technologies – v-Genomics angepasst, das ebenfalls entschieden hat, dass die Beschreibung stets als Erläuterungshilfe für die Auslegung von Ansprüchen herangezogen werden muss und nicht nur zur Beseitigung von Unklarheiten in Ansprüchen.
Die vor der Beschwerdekammer streitigen Fragen
In der zugrunde liegenden Rechtssache (in der der Patentinhaber von HGF vertreten wurde) enthielten die Ansprüche den Begriff „gesammeltes Blatt“. Alle Parteien waren sich einig, dass der Begriff „gesammeltes Blatt“ für den Fachmann auf dem Gebiet der Zigaretten und insbesondere der sogenannten „Heat-not-Burn“-Tabakprodukte eine bekannte Bedeutung hatte.
Die Beschreibung enthielt jedoch einen Absatz, der die Definition über das Verständnis des Fachmanns hinaus, der den Begriff isoliert betrachtet, erweitern sollte.
Bei Anwendung der weiter gefassten Definition fehlte den Ansprüchen die Neuheit, während sie bei Anwendung der engeren, akzeptierten Definition patentierbar waren.
Angesichts der divergierenden Rechtsprechung legte die Beschwerdekammer der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vor:
Frage 1: Sind A.69 (1) Satz 2 EPÜ und Artikel 1 des Protokolls über die Auslegung von Artikel 69 auf die Auslegung von Patentansprüchen bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ anzuwenden?
Frage 2: Dürfen die Beschreibung und die Figuren bei der Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit herangezogen werden, und wenn ja, generell oder nur dann, wenn der Fachmann einen Anspruch für sich genommen für unklar oder mehrdeutig hält?
Frage 3: Kann eine Definition oder eine ähnliche Angabe zu einem in den Ansprüchen verwendeten Begriff, die ausdrücklich in der Beschreibung enthalten ist, bei der Auslegung der Ansprüche zur Beurteilung der Patentierbarkeit unberücksichtigt bleiben, und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen?
Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer
Die Große Beschwerdekammer hat in einer bemerkenswert kurzen Entscheidung Folgendes festgestellt:
Frage 3 ist unzulässig (Grund 1); Frage 1 ist zu verneinen (Grund 9); und Frage 2 ist zu bejahen (Grund 18).
Frage 3: Diese wurde für unzulässig befunden, da eine Antwort auf die Frage für die Entscheidung des Streitfalls nicht erforderlich war.
Frage 1: Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass sich A.69 und sein Protokoll auf Verletzungsfragen vor nationalen Gerichten und dem UPC beziehen. Dies beruhte auf dem Wortlaut des Artikels selbst und seines Protokolls, den travaux préparatoires und seinem Ort innerhalb des EPüG (Kapitel III).
Frage 2: Die Große Beschwerdekammer beanstandete sowohl A.84 als auch A.69 als ungeeignete Grundlage und verwies stattdessen auf eine Auslegungsdiskussion auf der Grundlage einiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern. Aus dieser Rechtsprechung leitete die Große Beschwerdekammer folgende Grundsätze für die Auslegung von Ansprüchen ab:
- Die Ansprüche sind Ausgangspunkt und Grundlage für die Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57.
- Bei der Auslegung der Ansprüche wird stets auf die Beschreibung und die Zeichnungen Bezug genommen, nicht nur im Falle von Mehrdeutigkeiten.
Der erste Grundsatz wurde von der Großen Beschwerdekammer als feststehend angesehen (Grund 13).
Die Rechtsprechung, wonach auf die Beschreibung nur zur Beseitigung von Unklarheiten Bezug genommen wird, wurde von der Großen Beschwerdekammer kritisiert und zurückgewiesen, da sie mit A.69 und der Praxis der Gerichte der Vertragsstaaten und des UPC unvereinbar sei (Grund 15).
Die Große Beschwerdekammer bekräftigte die Philosophie der Harmonisierung zwischen den Vertragsstaaten des EPÜ und erklärte weiter, dass es für das EPA höchst unattraktiv sei, bewusst eine Praxis der Anspruchsauslegung zu verfolgen, die der Praxis der nationalen Gerichte der Vertragsstaaten und des UPC zuwiderlaufen könnte (Rz 16). Sie stellte ferner fest, dass eine Unklarheit in einem Anspruch durch eine Änderung zu beseitigen ist (Rz 20) und dass dies von entscheidender Bedeutung ist, damit die Prüfungsabteilungen eine qualitativ hochwertige Prüfung durchführen können.
Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer lautet wie folgt:
Die Ansprüche sind Ausgangspunkt und Grundlage für die Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57. Die Beschreibung und etwaige Zeichnungen sind bei der Beurteilung der Patentierbarkeit einer Erfindung nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ stets zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen, und zwar nicht nur dann, wenn der Fachmann einen Anspruch für sich genommen für unklar oder mehrdeutig hält.
Diskussion
Die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer ist aus mehreren Gründen bemerkenswert.
Erstens hat sie anerkannt, dass es im EPÜ keine Rechtsgrundlage für ihre Schlussfolgerung gibt, sondern hat einige Grundsätze herangezogen, die offenbar durch die Rechtsprechung entwickelt wurden.
Zweitens hat sie dem vielleicht lobenswerten Ziel, die Kohärenz zwischen dem EPA und den nachgelagerten Gerichten, die über die Verletzung der vom EPA erteilten Patente zu entscheiden haben, zu gewährleisten, großes Gewicht beigemessen. Diese Argumentation scheint jedoch teilweise auf einem logischen Widerspruch zu beruhen: Einerseits ist A.69 keine Grundlage für die Auslegung von Ansprüchen durch das EPA, andererseits steht die Nichtberücksichtigung der Beschreibung (außer in Fällen von Mehrdeutigkeit) bei der Auslegung von Ansprüchen im Widerspruch zu A.69!
Drittens ist fraglich, ob die Entscheidung die Möglichkeit eröffnet, dass Patentinhaber eine enge Auslegung eines weit gefassten Begriffs in einem Anspruch auf der Grundlage einer einschränkenden Definition in der Beschreibung (d. h. im entgegengesetzten Sinne zum vorliegenden Fall) geltend machen können.
Viertens ist es möglich, dass die Prüfungsabteilung des EPA die ratio so versteht, dass die Beschreibung immer mit den Ansprüchen in Einklang gebracht werden muss (eine Frage, die in einem früheren Fall an die Große Beschwerdekammer verwiesen werden sollte).
Fünftens kann dies in der Praxis zu einer höheren Arbeitsbelastung für die Prüfer und zu einer Komplexität der vor den Einspruchs- und Beschwerdekammern anhängigen Sachverhalte führen, da die Patentinhaber nicht mehr einfach geltend machen können, dass die Ansprüche an sich klar sind.
Schließlich könnte dies ein Signal dafür sein, dass das EPA und insbesondere die Technischen Beschwerdekammern einen verstärkten Fokus auf die Praxis der nationalen Gerichte der Vertragsstaaten und vor allem des UPC legen.
Wie immer bei Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer müssen wir die Auswirkungen in der Praxis vor den Technischen Beschwerdekammern, Einspruchs- und Prüfungsabteilungen abwarten.
[1] Die Ansprüche müssen den Gegenstand des Schutzes klar und prägnant definieren und durch die Beschreibung gestützt sein.
[2](1)Der Umfang des durch ein europäisches Patent oder eine europäische Patentanmeldung gewährten Schutzes wird durch die Ansprüche bestimmt. Die Beschreibung und die Zeichnungen dienen jedoch der Auslegung der Ansprüche.
(2) Bis zur Erteilung des europäischen Patents wird der Umfang des durch die europäische Patentanmeldung gewährten Schutzes durch die Ansprüche in der eingereichten Fassung bestimmt. Das europäische Patent in der erteilten oder in einem Einspruchs-, Beschränkungs- oder Nichtigkeitsverfahren geänderten Fassung bestimmt jedoch rückwirkend den durch die Anmeldung gewährten Schutz, soweit dieser nicht dadurch erweitert wird.
[3] Artikel 1
Artikel 69 ist nicht dahin auszulegen, dass der Umfang des durch ein europäisches Patent gewährten Schutzes durch den strengen, wörtlichen Sinn der in den Ansprüchen verwendeten Formulierung bestimmt wird, wobei die Beschreibung und die Zeichnungen nur zur Klärung einer Unklarheit in den Ansprüchen herangezogen werden. Sie ist auch nicht dahin auszulegen, dass die Ansprüche lediglich als Richtschnur dienen und sich der tatsächlich gewährte Schutz auf das erstrecken kann, was der Patentinhaber nach dem Stand der Technik unter Berücksichtigung der Beschreibung und der Zeichnungen beabsichtigt hat. Vielmehr ist sie dahin auszulegen, dass sie eine Position zwischen diesen beiden Extremen festlegt, die einen angemessenen Schutz des Patentinhabers mit einer angemessenen Rechtssicherheit für Dritte verbindet.
Artikel 2
Äquivalente
Bei der Bestimmung des Schutzumfangs eines europäischen Patents sind alle Elemente zu berücksichtigen, die einem in den Ansprüchen genannten Element gleichwertig sind.
Dieser Artikel wurde von Chris Moore, Partner & Leiter der Abteilung Einsprüche und Beschwerden, verfasst.