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G1/23: Die Große Beschwerdekammer ändert die Praxis des EPA in Richtung einer „On-Sale“-Sperre.

September 2025

Letzte Woche hat die Große Beschwerdekammer (EBA) des EPA ihre Entscheidung veröffentlicht, dass sowohl ein Produkt, das vor dem Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung auf den Markt gebracht wurde, als auch technische Informationen, die sich darauf beziehen, aber ebenfalls vor diesem Datum verfügbar waren, nicht allein aus dem Grund vom Stand der Technik ausgeschlossen werden sollten, dass ihre Zusammensetzung oder innere Struktur vor diesem Datum von einem Fachmann nicht analysiert und reproduziert werden konnte. Die EBA hat nämlich bestätigt, dass ein Produkt durch seine Markteinführung einfach durch wiederholten Kauf „reproduziert” werden kann. Durch die Senkung der Schwelle für Handlungen, die eine Reproduktion darstellen, hat die EBA die Praxis des EPA effektiv in Richtung einer „On-Sale”-Ausschlussklausel für die Patentierbarkeit verschoben, die der vom USPTO angewandten ähnlich erscheint.

Hintergrund

EP2626911 wurde mit einem unabhängigen Anspruch erteilt, der sich auf ein Einkapselungsmaterial für eine Solarzelle bezog, das ein Ethylen/α-Olefin-Copolymer mit einer Vielzahl von Eigenschaften, darunter ein Gehalt an Aluminiumelementen von 10 bis 500 ppm, umfasst.

Im Einspruchsverfahren wurde das Patent aufgrund der Erfindungshöhe auf der Grundlage einer Offenbarung eines im Handel erhältlichen Polymers „ENGAGE 8400” (offenbart in D1) angefochten, das alle Anforderungen des Anspruchs 1 erfüllte (wie aus den während des Verfahrens vorgelegten technischen Datenblättern hervorgeht), mit Ausnahme des Aluminiumgehalts, der nur 4,4 ppm betrug.

Der Patentinhaber argumentierte während der mündlichen Einspruchsverhandlung, dass D1 gemäß der Entscheidung G1/92 aus dem Stand der Technik gemäß Artikel 54 (2) EPÜ ausgeschlossen werden sollte. Die Einspruchsabteilung ging in ihrer Entscheidung nicht speziell auf dieses mündliche Vorbringen des Patentinhabers ein. Allerdings wurde Anspruch 1 gegenüber D1 als erfinderisch angesehen, was bedeutet, dass die Einspruchsabteilung D1 sehr wohl als Teil des Stands der Technik betrachtete.

Die Beschwerde (T0438/19)

Der Patentinhaber brachte erstmals schriftlich dasselbe Argument zu D1 vor und zitierte dabei r 1.4 von G1/92 als Begründung, das wie folgt lautet:

„1.4 Ein wesentlicher Zweck jeder technischen Lehre besteht darin, den Fachmann in die Lage zu versetzen, ein bestimmtes Produkt durch Anwendung dieser Lehre herzustellen oder zu verwenden. Wenn sich diese Lehre aus einem auf den Markt gebrachten Produkt ergibt, muss sich der Fachmann auf sein allgemeines technisches Wissen stützen, um alle Informationen zu sammeln, die ihn zur Herstellung des genannten Produkts befähigen. Wenn es dem Fachmann möglich ist, die Zusammensetzung oder die innere Struktur des Produkts zu ermitteln und es ohne übermäßigen Aufwand zu reproduzieren, dann gehören sowohl das Produkt als auch seine Zusammensetzung oder innere Struktur zum Stand der Technik.“ (Hervorhebung hinzugefügt)

Das Argument des Patentinhabers lautete, dass sowohl das Produkt als auch seine Zusammensetzung vom Stand der Technik ausgeschlossen werden sollten, da der Fachmann nicht in der Lage wäre, ENGAGE 8400 (d. h. das Produkt) ohne unzumutbaren Aufwand herzustellen (da seine Zusammensetzung oder innere Struktur nicht bekannt ist), obwohl das Produkt im Handel erhältlich ist.

Mit anderen Worten argumentierte der Patentinhaber, dass Regel 1.4 der Entscheidung G1/92 inhärent zu der umgekehrten Schlussfolgerung führt, dass, wenn es für den Fachmann nicht möglich ist, die Zusammensetzung oder innere Struktur eines Produkts zu entdecken und das Produkt ohne unzumutbaren Aufwand zu reproduzieren, sowohl das Produkt als auch seine Zusammensetzung oder innere Struktur nicht zum Stand der Technik werden.

In ihrer Vorlageentscheidung stellte die Beschwerdekammer fest, dass G1/92 offenbar weithin als Einführung einer Ausführbarkeitsvoraussetzung für die Einstufung eines Produkts als Stand der Technik angesehen wurde. Die Kammer stellte jedoch auch fest, dass eine solche Anforderung im Widerspruch zur Entstehungsgeschichte der Neuheitsvorschrift (Artikel 54 EPÜ) und zu dem steht, was der Begriff „der Öffentlichkeit zugänglich“ in Bezug auf den Stand der Technik ausdrücken soll, wie dies in den einschlägigen Passagen der Vorarbeiten zum EPÜ veranschaulicht wird (siehe Randnummern 10-10.5 der Vorlageentscheidung).

Die Beschwerdekammer stellte ferner fest, dass es erhebliche Abweichungen in der Rechtsprechung seit G1/92 gab. In einer ersten Rechtsprechungslinie wurde die Zusammensetzung oder innere Struktur getrennt vom Produkt behandelt, sodass ein verfügbares Produkt selbst Teil des Stands der Technik ist, seine Zusammensetzung jedoch ausgeschlossen ist, wenn der Fachmann die Zusammensetzung nicht reproduzieren kann (z. B. T946/04, T1666/16). Die zweite Rechtsprechungslinie besagt, dass die Unmöglichkeit, die Zusammensetzung herzustellen, sowohl die Zusammensetzung als auch das Produkt zwangsläufig aus dem Stand der Technik ausschließt (z. B. T370/02, T2045/02, T1833/14, T23/11).

Aufgrund dieser Divergenz legte die Kammer der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen zur Klärung der Rechtslage vor:

  1. Ist ein Produkt, das vor dem Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung auf den Markt gebracht wurde, allein aus dem Grund, dass seine Zusammensetzung oder sein innerer Aufbau vor diesem Zeitpunkt von einem Fachmann nicht ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte, vom Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ ausgeschlossen?
  1. Wenn die Antwort auf Frage 1 nein lautet, sind dann technische Informationen über dieses Produkt, die vor dem Anmeldetag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden (z. B. durch Veröffentlichung einer technischen Broschüre, Nichtpatent- oder Patentliteratur), Stand der Technik im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ, unabhängig davon, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Produkts vor diesem Zeitpunkt für den Fachmann ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
  2. Wenn die Antwort auf Frage 1 „Ja“ lautet oder die Antwort auf Frage 2 „Nein“ lautet, welche Kriterien sind dann anzuwenden, um zu bestimmen, ob die Zusammensetzung oder der innere Aufbau des Erzeugnisses im Sinne der Stellungnahme G1/92 ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte? Ist insbesondere erforderlich, dass die Zusammensetzung und der innere Aufbau des Erzeugnisses vollständig analysierbar und identisch reproduzierbar sind?

Die Entscheidung der Großen Kammer

Die Große Kammer räumt ein, dass G1/92 nur dann Sinn ergibt, wenn unter Reproduzierbarkeit zu verstehen ist, dass der Fachmann in der Lage ist, das Produkt auf dem gleichen oder einem anderen Weg herzustellen (siehe Randnummern 37 und 38). Die Große Kammer kam jedoch zu dem Schluss, dass eine solche Auslegung nicht möglich ist.

In ihrer gesamten Entscheidung betonte die Große Beschwerdekammer, dass jeder künstlich hergestellte Vorläufer oder jedes künstlich hergestellte Material letztlich auf eine Ausgangsverbindung zurückgeführt werden kann, die vom Fachmann unter Verwendung des allgemeinen Fachwissens nicht hergestellt werden könnte und somit, nach logischer Schlussfolgerung, nicht ermöglicht wäre. Wenn also festgestellt wird, dass ein nicht reproduzierbarer Vorläufer nicht zum Stand der Technik gehört, müsste auch jedes aus diesem Vorläufer hergestellte Produkt entfernt werden, was dazu führen würde, dass letztendlich alle Produkte auf der Erde eliminiert würden (wenn man weit genug in der Produktionskette zurückgeht) (siehe Randnummer 60). Die Große Beschwerdekammer hielt eine solche Feststellung für „offensichtlich absurd“.

Die Große Beschwerdekammer nimmt auch die Aussage des Patentinhabers zur Kenntnis, dass natürlich vorkommende Chemikalien „offensichtlich reproduzierbar” sind, hält dieses Argument jedoch für fehlerhaft, da der Fachmann das Produkt nicht selbst „herstellt”, sondern es vielmehr aus der Natur „gewinnt” oder „entnimmt”. Der Fachmann verfügt daher nicht über die Fähigkeiten, das Naturprodukt herzustellen, und tatsächlich sind viele Naturprodukte synthetisch kaum nachzubilden (z. B. Rohöl, siehe Absätze 61 und 62).

Die Große Beschwerdekammer stellte fest, dass es keinen Unterschied zwischen dem Kauf eines handelsüblichen Ausgangsprodukts von einem Hersteller und der Entnahme eines natürlich vorkommenden Produkts aus der Natur gibt. Tatsächlich stellte die Große Beschwerdekammer nachdrücklich fest, dass die Auslegung des Begriffs „reproduzieren“ im Sinne von „herstellen“ oder „produzieren“ eine viel zu enge Auslegung ist. Stattdessen sollte ein Produkt als „reproduzierbar“ angesehen werden, wenn es wiederholt mit gleichbleibenden Eigenschaften gekauft oder beschafft werden kann. Dementsprechend ist ein handelsübliches Produkt naturgemäß reproduzierbar und wird von Chemikern in ihrer üblichen Arbeitspraxis als solches verwendet (siehe Absatz 2.4.2.).

In Bezug auf die Zusammensetzung oder innere Struktur räumte die Große Beschwerdekammer ein, dass es eine prima facie Interpretation gibt, die nicht unvernünftig ist, wonach eine Zusammensetzung vom Stand der Technik ausgeschlossen werden kann, selbst wenn das Produkt selbst enthalten ist, da ein Fachmann ein bekanntes Produkt (z. B. wegen seiner physikalischen Eigenschaften) verwenden könnte, ohne dessen Zusammensetzung zu kennen. Die Große Beschwerdekammer hielt eine solche Auslegung jedoch erneut für unhaltbar und kam erneut zu dem Schluss, dass man, wenn man bei der Herstellung eines chemischen Produkts weit genug zurückgeht, unweigerlich auf ein nicht reproduzierbares Produkt stößt, sodass der Fachmann gezwungen ist, sich mit einer nicht reproduzierbaren Zusammensetzung zu befassen.

Die Große Beschwerdekammer kam zu dem Schluss, dass es offensichtlich ungerecht wäre und dem normalen Verhalten eines Fachmanns zuwiderlaufen würde, eine Zusammensetzung, die an sich bekannt sein kann (oder mit zum Zeitpunkt der Anmeldung bekannten Techniken auffindbar ist), allein deshalb aus dem Stand der Technik auszuschließen, weil sie selbst nicht hergestellt werden kann (z. B. weil sie aus der Natur stammt), da ein Fachmann in der Regel Ausgangsmaterialien von Herstellern in der realen Welt bezieht (siehe Abschnitt 2.4.3.). Eine solche Auslegung, die die Zusammensetzung (aber nicht das Produkt) auf der Grundlage von G1/92 ausschließt, konnte daher nicht gefolgt werden.

Korrekte Auslegung von G1/92

Die Große Beschwerdekammer lehnte beide Auslegungen von G1/92 ab, die von der vorlegenden Beschwerdekammer vorgelegt worden waren, und stellte stattdessen fest, dass eine weiter gefasste Auslegung der Reproduzierbarkeit anzuwenden sei und dass „die Antwort der Stellungnahme [zu] G1/92 nicht in ihrer Gesamtheit aufrechterhalten werden kann“ (Absatz 74). Die Große Beschwerdekammer scheint daher entschieden zu haben, dass es keine Ausführbarkeitsanforderung dafür gibt, dass ein auf den Markt gebrachtes Produkt Teil des Stands der Technik ist, wodurch die Patentierbarkeit vor dem EPA etwas näher an die „On-Sale”-Ausschlussklausel des USPTO herangerückt wird.

Darüber hinaus stellte sie fest, dass die richtige Auslegung von G1/92 lautet:

„Die chemische Zusammensetzung eines Produkts ist Teil des Stands der Technik, wenn das Produkt als solches der Öffentlichkeit zugänglich ist und von einem Fachmann analysiert werden kann, unabhängig davon, ob bestimmte Gründe für die Analyse der Zusammensetzung identifiziert werden können oder nicht“ (Absatz 73).

Entscheidung

Die vorgelegten Fragen wurden wie folgt beantwortet:

  1. Nein
  2. Ja
  3. Durch die Antworten 1 und 2 hinfällig geworden.

Kommentar

Zunächst ist anzumerken, dass die Große Beschwerdekammer nicht festgestellt hat, dass ein nicht reproduzierbares Produkt Teil des Stands der Technik sein kann. Stattdessen hat sie lediglich die Auslegung des Begriffs „Reproduzierbarkeit“ dahingehend erweitert, dass auch der Kauf eines im Wesentlichen identischen Produkts darunter fällt.

Zweitens erscheint es bei der Betrachtung der Entscheidung sinnvoll, die Konsequenzen zu erwägen, die sich ergeben hätten, wenn die Große Beschwerdekammer G1/92 gefolgt wäre. Möglicherweise hätte dies den Herstellern erlaubt, ihre Produkte zu verkaufen, ohne die Patentierbarkeit eines später angemeldeten Patents zu gefährden (solange das Produkt von einem Fachmann nicht nachgefertigt werden konnte), was eine künstliche Verlängerung der Patentlaufzeit ihrer Produkte zur Folge gehabt hätte.

In Anbetracht dieses Ergebnisses scheint die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer auf der ihrer Ansicht nach für alle Parteien gerechtesten und offensichtlich fairsten Auslegung der Patentierbarkeit auf der Grundlage von G1/92 zu beruhen. Tatsächlich schließt die Hinwendung der Großen Beschwerdekammer zu einer „On-Sale”-Anforderung die Möglichkeit nahezu aus, Produkte oder diesbezügliche Offenbarungen aufgrund ihrer Ausführbarkeit oder deren Fehlen aus dem Stand der Technik auszuschließen.

Drittens kann diese Entscheidung Praktikern mehr Sicherheit geben, dass bei der Ausarbeitung europäischer Patentanmeldungen ein Verweis auf eine im Handel erhältliche Komponente ausreichen kann, um eine befähigende Offenbarung dieser Komponente zu liefern. Dementsprechend scheint eine vollständige Beschreibung der Herstellung dieser Komponente nicht mehr erforderlich zu sein, um die Reproduzierbarkeit dieser Komponente nachzuweisen.


Dieser Artikel wurde von der Patentanwältin Alexandra Tyson verfasst.

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